Ihre Entstehung und ihr deprimierendes Ende – von Dieter Eckert
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts lag das Lumdatal abseits der oberhessischen Schienenwege, da es von der Provinzialhauptstadt Gießen aus lediglich durch Benutzung der Main-Weser-Bahn-Station Lollar und der an der Oberhessischen Eisenbahn gelegenen Station Grünberg erreicht werden konnte. Die Wegstrecken zwischen den einzelnen Orten des Lumdatals wurden zu Fuß oder mit der Postkutsche zurückgelegt, landwirtschaftliche Produkte und Industriewaren mit Pferdefuhrwerken transportiert. Die ständig ansteigende Industrialisierung in den Städten Gießen und Lollar erforderte mehr und mehr Arbeitskräfte, für die nur durch Benutzung der Eisenbahn der tägliche Weg zum Arbeitsplatz zu bewältigen war. Neben dem Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen und der Personenbeförderung in die nahegelegenen Industriezentren war ein Bahnanschluß für die Steinbrüche im Lumdatal von großer Bedeutung. Für diese rohstoffverarbeitenden Betriebe ging es um die Existenzfrage, da der Transport auf der Straße zur nächsten Bahnstation zu viel Zeit beanspruchte (Umladen) und zu hohe Kosten verursachte.
Das am Eingang des Lumdatals liegende Lollar war bereits seit dem 25. Juli 1850 an die Main-Weser-Bahn (Frankfurt – Kassel) angeschlossen und durch die am 15. Oktober 1878 in Betrieb genommene Teilstrecke Wetzlar – Lollar der militärisch-strategischen Berlin – Coblenz – Metzer Bahn („Kanonenbahn“) zu einem wichtigen Abzweigbahnhof geworden. Dies zeigte sich vor allem darin, dass im Zuge der Bauarbeiten an der „Kanonenbahn“ das jetzige, für die örtlichen Verhältnisse großzügig angelegte Stationsgebäude in Form eines Inselbahnhofs errichtet wurde. Das frühere Stationsgebäude ist auch heute noch vorhanden und befindet sich etwa an der Stelle, an der die Lumdatalbahn von der Main-Weser-Bahn abzweigt.
Das oberhessische Grünberg erhielt am 29. Dezember 1869 im Zuge der in west-östlicher Richtung fortschreitenden Bauarbeiten an der Strecke Gießen – Fulda (Inbetriebnahme der Gesamtstrecke am 31. Juli 1871) einen eigenen Bahnhof, der damals noch abseits des bebauten Stadtgebiets lag.
Bezüglich der geographischen Verhältnisse standen einer Bahnverbindung zwischen diesen beiden Städten keine Hindernisse im Wege. Von Lollar aus verläuft die Bahnlinie das Lumdatal aufwärts bis Lumda (270 m über NN), wobei ein Höhenunterschied von 102 Metern zu bewältigen ist, und erreicht von hier aus in etwa gleicher Höhenlage einem Seitental folgend Grünberg.
Erste Vorbereitungen zum Bahnbau an der Lumda gehen auf das Jahr 1881 zurück, als das Großherzogliche Kreisamt in Gießen gleichlautende Schreiben an die Bürgermeister der Lumdatalgemeinden versandte, um über den Umfang des Handels mit landwirtschaftlichen Produkten und des Bezugs von Industriewaren Mitteilung zu erhalten. Nach dieser Umfrage trafen im Bahnhof Lollar jährlich 10.000 Zentner Kartoffeln, 6.000 Zentner Getreide und 1.200 Zentner Eisen- und Stahlwaren ein, die von dort mit Fuhrwerken in erster Linie nach Allendorf, Londorf und Kesselbach transportiert werden mussten. Um diesen umständlichen und zeitraubenden Güterverkehr auf der Straße zu beseitigen, den Steinbrüchen und holzverarbeitenden Betrieben durch Bahnanschluß bessere Absatzmöglichkeiten zu gewährleisten und die Personenbeförderung nach Lollar und Gießen zu steigern, beschlossen die Bürgermeister von Allendorf, Londorf, Allertshausen, Wermetshausen, Odenhausen, Winnen, Dreihausen, Rüddingshausen, Roßberg, Kesselbach und Climbach 1885 eine schriftliche Eingabe, die folgenden Wortlaut hat:
„Zunächst liegt das dringendste Bedürfnis vor, die betriebsamen Ortschaften des mittleren Lumdatals von Lollar bis Kesselbach mit einem Schienenwege zu versehen. Während die Bevölkerung, namentlich die von den Ortschaften Mainzlar, Daubringen, die frühere kurhessische Enklave Treis sowie die Stadt Allendorf vorzugsweise Handel und Ackerbau treiben und eine größere Arbeiterzahl in die nahegelegenen Eisenwerke bei Lollar und in die Zigarrenfabriken entsenden, sind die Bewohner des mittleren Lumdatals (Londorf, Nordeck, Winnen, Kesselbach, Odenhausen, Geilshausen, ferner Wermetshausen, Rüddingshausen, Allertshausen) vielfach auf den Handel und auf die Industrie der Gewinnung und Bearbeitung der in den dortigen Gemarkungen gelegenen Basalt-Lavabrüche sowie des Betriebs von Eisensteingruben angewiesen. Die Steinbrüche liefern einen auch in weiten Kreisen vielfach bekannten guten Baustein, den sogenannten „Lungstein“. Die Brüche haben früher eine große Anzahl Arbeiter beschäftigt. Die Brüche an der Lumda liegen ca. 3 Stunden von der nächsten Bahnstation, haben zudem nur eine mangelhafte Straßenverbindung bis Lollar und vermögen infolgedessen nur schwer gegen die Konkurrenz der rheinischen Lavabrüche bei Niedermendig, welche mit direkten Schienenwegen versehen sind, anzukämpfen. Infolgedessen haben mehrfache Arbeiterauswanderungen stattfinden müssen. Im Interesse der Erhaltung und größeren Ausdehnung dieses Industriezweiges sowie der benachbarten Eisensteingruben bei Geilshausen etc., welches den Arbeitern Gelegenheit zum Verdienst gibt, ist die Erbauung der Bahn unerläßlich. Die Bahn wird außerdem den Handel und Verkehr mit landwirtschaftlichen Produkten außerordentlich heben, da schon jetzt die Verbindung mit den nahegelegenen reicheren Ortschaften des Ebsdorfer Grundes in Bezug auf den Vieh- und Getreidehandel etc. eine bedeutende zu nennen ist und die Vertreter umliegender Orte Gehöfte lange Jahre bemüht gewesen sind, dem Lumdatal Einnahmequellen durch Eröffnung neuer Handelsbeziehungen, Abhaltung von Viehmärkten etc. zu verschaffen.
Ferner würden die auf den hessischen Gebieten gelegenen großen Waldungen besser ausgenutzt werden können, wenn die Produkte derselben eine billigere Verfrachtung haben; auch würden eine größere Anzahl Hölzer aus den benachbarten preußischen Forsten nach Allendorf zur Bahn befördert werden können und so überall mehr inländische Arbeitskräfte Verwendung finden.
Der Provinzialhauptstadt Gießen wird gleichfalls die Erbauung einer Lumdatalbahn von größerem Nutzen sein. Gießen würde mittels derselben leicht zu erreichen sein, während der jetzige mangelhafte Privatfuhrwerksverkehr beschwerlich und sehr zeitraubend ist. Nach einer bereits vor mehreren Jahren aufgestellten Ermittlung des Warentransports beträgt die Aus- und Einfuhr des mittleren Lumdatales und der nächstgelegenen preußischen Ortschaften: Ausfuhr von Getreide, Steine, Holz, Obst, Vieh und Branntwein 310.000 Zentner pro Jahr, die Einfuhr 231.000 Zentner pro Jahr.
Nach Fertigstellung der Bahn werden auch die minderwertigen Produkte der Steinindustrie nutzbar gemacht werden können, desgleichen größere Eisensteintransporte und Holztransporte ins Leben gerufen werden; außerdem wird ein größerer Austausch in landwirtschaftlichen Produkten eintreten, so dass man eine Transportzahl von 950.000 bis 1 Million Zentner Ein- und Ausfuhr pro Jahr sicher annehmen kann. Der Reiseverkehr wird bei einer auf Grundlagen der Ermittlungen der Oberhessischen Bahnen sich ergebenden Zahl durchschnittlich auf 45 – 60 Personen belaufen.
In Erwägung, dass für diese Verkehrsverhältnisse die Anlage einer normalspurig gebauten Bahn angezeigt erscheint, ist von der Anlage einer früher ins Auge gefaßten Schmalspurbahn Abstand genommen.
Die Kosten der normalspurigen Sekundärbahn inkl. des Grunderwerbs, welcher in den Gemarkungen Lollar, Daubringen, Mainzlar und Treis als verhältnismäßig hoch sich erweist, beträgt nach dem allgemeinen Überschlag inkl. Ausrüstung: von Lollar nach Kesselbach in einer Länge von 15 Kilometer 975.000 Mark, von Kesselbach nach Mücke oder Grünberg in einer Länge von 14 Kilometer 800.000 Mark. Eine Bahn von Lollar nach Kesselbach würde nur eigenen Grund und Boden benutzen können, da die Straße im unteren Lumdatal sehr schmal, nur sieben Meter breit ist und zudem vielfache Krümmungen und ungünstige Steigungsverhältnisse aufweist.
Um es zu ermöglichen, dass eine baldige Erbauung der Lumdatalbahn, welche aus den oben angeführten Gründen im allgemeinen Interesse sowohl der Bewohner des genannten Landstriches als auch der Kreise Gießen und Grünberg liegt, bitte ich Großherzogliches Ministerium der Finanzen ganz gehorsamst den hohen hessischen Landständen in der in der nächsten Woche erfolgenden Budgetberatung unser Anliegen vortragen zu lassen: Hochgeneigtest einen Staatszuschuß für die Eisenbahnlinie Lollar – Kesselbach von 300.000 Mark zu bewilligen und einen weiteren Staatszuschuß von 280.000 Mark für die weitere Ausbauung der Lumdatalbahnlinie von Kesselbach nach Grünberg, Mücke oder einer anderen Einmündungsstrecke einer bestehenden Hauptbahn reservieren zu wollen und die Bedingungen, unter welchen derselbe verwendet werden soll, durch Spezialgesetz zu bestimmen.“
Diesem Antrag zufolge sollte die Lumdatalbahn zunächst nur von Lollar nach Kesselbach gebaut werden und von dort aus zu einem späteren Zeitpunkt mit den Stationen Grünberg oder Mücke verbunden werden. Zudem war eine die hessisch-preußische Landesgrenze überschreitende Zweigbahn in den Ebsdorfer Grund mit einer Fortsetzung Richtung Marburg vorgesehen. Obwohl viele und auch dringende Gründe für den Bahnbau vorhanden waren, kam es aufgrund der unterschiedlichen örtlichen Interessen erst am 15. November 1890 zu einer maßgebenden Entscheidung, als die Strecke Lollar – Londorf – Grünberg gesetzlich genehmigt wurde. Die daraufhin einsetzende Diskussion um die genaue Linienführung führte dazu, dass zunächst lediglich der Abschnitt Grünberg – Londorf in Angriff genommen werden konnte, da Gießen eine Bahnverbindung von Londorf über Alten-Buseck und Wieseck in die Universitätsstadt forderte. Über die Einweihung der Teilstrecke Grünberg – Londorf und die Vorgeschichte des noch von der Oberhessischen Eisenbahndirektion Gießen geleiteten Bahnbaus berichtet der „Grünberger Anzeiger“ am 5. August 1896 (Nr. 63):
„Zu der heutigen Betriebs-Eröffnung der Nebenbahn Grünberg – Londorf haben sich morgens 9 Uhr die Herren Provinzialdirektor von Gagern, Regierungsrat Dr. Wallau, Amtmann Dr. Wüst, Eisenbahnbauinspektor Wolpert, Ingenieur Hildenbrand, Baurat Schnitzel, Bauunternehmer Kunz, Bürgermeister und Gemeinderat und eine Anzahl Einwohner von Grünberg am hiesigen Bahnhofe eingefunden, um in den mit Kränzen geschmückten, freundlich dreinschauenden Wagen des bereitstehenden Zuges die erste offizielle Fahrt nach Londorf durch das Lumdatal zu unternehmen. An den schmucken Stationsgebäuden des letzteren bei Lumda, Geilshausen, Odenhausen, Kesselbach und Londorf war die Schuljugend aufgestellt, die im Verein mit den erschienenen erwachsenen Ortseinwohnern das Ereignis freudig begrüßten. In Londorf feierte Herr Pfarrer Weber in einer Ansprache die Eröffnung der Bahn, die, wenn sie auch zu weitgehende Hoffnungen wohl nicht erfüllen werde, doch geeignet sei, neues Leben in die nunmehr dem Verkehr erschlossene Gegend zu bringen. Er dankte allen denjenigen, welche am Bau mitgewirkt, und schloß mit Dank gegen Gott, der das Werk bei seiner Ausführung geschützt, so dass es ohne mit größerem Nachteil verknüpfte Unglücksfälle zu Ende geführt werden konnte.
Hierauf ergriff Herr Provinzialdirektor von Gagern das Wort und gab der Hoffnung Ausdruck, dass die Bahn der Landwirtschaft und der Industrie der von ihr berührten Gegend zum Segen gereiche, eine Wünschelrute sein möge, mit der die noch ungehobenen Schätze des Lumdatales zu Tage gefördert würden. Der Bahnbau falle zusammen mit einer wichtigen Entscheidung, die kürzlich in Darmstadt getroffen und die geeignet sei, die schweren Opfer, welche die Erbauung der Nebenbahnen dem Lande auferlegten, zu ermäßigen – mit dem Staatsvertrage mit Preußen (23.6.1896, mit Wirkung vom 1.4.1897), der für die hessischen und preußischen Bahnen die Betriebsgemeinschaft herbeiführe. Diese Entscheidung, für die auch höhere Gesichtspunkte maßgebend gewesen, sei auch aus nationalen Gründen mit Freuden zu begrüßen, und es sei zu wünschen, dass sie bei anderen deutschen Staaten Nachahmung finde. Mit einem Hoch auf Seine Majestät den Kaiser und seine Königliche Hoheit den Großherzog, die am Zustandekommen obigen Vertrags ihr regstes Interesse betätigt hätten, endete die Ansprache.
Nach kurzem Aufenthalte in Londorf wurde die Rückfahrt nach Grünberg angetreten und dort die Festlichkeit bei einem einfachen Mittagsmahl im Gasthaus „Zum Hirsch“ beendet. Nachdem hierbei Herr Bürgermeister Zimmer Gelegenheit genommen, allen, die den Bau der Bahn mit Rat und Tat gefördert, zu danken, entwickelte Herr Provinzialdirektor von Gagern in ausführlicher Weise die Geschichte des Bahnbaues, die bereits vor 16 Jahren durch eine Eingabe an die Landstände ihren Anfang genommen. Damals sei eine andere, durch das untere Lumdatal führende Linie geplant gewesen; jedoch habe man diesem Antrage keine Folge gegeben wegen des in Aussicht stehenden Nebenbahngesetzes, das dann auch im Juli 1884 ins Leben trat. Kaum war dies erlassen, als auch der verstorbene Abgeordnete von Rabenau im Landtag den Antrag zur Erbauung der Linie Grünberg – Londorf – Lollar einbrachte. Im Jahre 1886 bat ein Ingenieur Wildenhain um Konzession zur Erbauung der Bahn, die, wenn ihr stattgegeben worden wäre, eine staatliche Subvention von nur 200.000 Mark für die Linie Lollar – Londorf und eine solche von 300.000 Mark für Grünberg – Londorf erforderlich gemacht hätte.
Die Regierung ging auf dieses Anerbieten, durch dessen Annahme zweifellos beide Teile schlecht gefahren wären, nicht ein. Sie nahm vielmehr selbst die Erbauung der Bahn in die Hand und beauftragte das Großherzogliche Kreisamt, wegen des Geländeerwerbs mit den betreffenden Gemeinden Verhandlungen einzuleiten, die damals indessen ergebnislos verliefen. Erst eine Bürgermeister-Versammlung in Londorf im Juni 1886 brachte durch die Einwirkung des verstorbenen Freiherrn von Rabenau einen Umschwung. 1887 wurde Herr von Brand mit genaueren Vermessungen beauftragt, aufgrund deren das Großherzogliche Kreisamt Gießen wiederum mit den beteiligten Gemeinden über die Geländestellung und die Barbeitragsleistung in Verhandlungen trat. Selbst die damals veranschlagte Summe von 25.000 Mark (400 Mark pro Morgen) erschien den Gemeinden zu hoch, während die nunmehr tatsächlich aufgewandte Summe für Geländeerwerb 100.000 Mark betrage. Der von den Gemeinden zu leistende Barbeitrag, welcher zunächst auf 6.500 Mark festgesetzt war, wurde später auf 3.500 und schließlich auf 1.300 Mark ermäßigt.
In 1888 gestalteten sich die Verhandlungen über den Geländeerwerb etwas günstiger, und so erfolgte im Mai 1890 die Vorlage wegen Erbauung der Linie Grünberg – Londorf, die 622.000 Mark, und Londorf – Lollar, die 800.000 Mark kosten sollte. Diese Summe erwies sich jedoch als ungenügend und das schließliche Ergebnis bildete für Grünberg – Londorf die Gesamtsumme von 900.000 Mark, welche sich durch weitere Anlagen mittlerweile noch erhöht hat. Im Herbst 1892 wurden die definitiven Pläne fertiggestellt und Großherzogliches Kreisamt erhielt den Auftrag, das bezüglich der Geländestellung noch Erforderliche glatt zu machen.
Die Verhandlungen hierüber dauerten ein Jahr; das Verhältnis, wonach die einzelnen Gemeinden zur Geländestellung beizutragen hatten, wurde durch Beschluß des Kreisausschusses festgesetzt. Hierdurch wurde am meisten Grünberg, in zweiter Linie Londorf und dann die übrigen Gemeinden herangezogen. Anfang 1894 erfolgte nunmehr die Offenlegung der Pläne, Ostern desselben Jahres begann der Geländeerwerb, welch letzterer sich in rascher Weise im Laufe eines Vierteljahres abwickelte, ohne dass ein einziger Fall von Expropriation vorgekommen wäre, und im August 1894 wurde mit den Arbeiten der Anfang gemacht, nach deren zweijähriger Dauer die Bahn nunmehr fahrbar sei. Die Geldopfer für dieselbe seien anfangs unterschätzt worden, schließlich aber zu großer Höhe angewachsen. Von dem seinerseits erfolgten Anerbieten der Sparkasse Grünberg, 20.000 Mark unverzinslich zur Verfügung zu stellen, solle demnächst Gebrauch gemacht werden. Der Herr Provinzialdirektor schloß mit dem Wunsche, dass die den Gemeinden durch den Bahnbau auferlegte Last sich doppelt und dreifach bezahlt machen möge.“
Nach Inbetriebnahme des Abschnitts Grünberg – Londorf forderten nun die Gemeinden des unteren Lumdatals mit Nachdruck den Bau eines Schienenwegs, um keine wirtschaftlichen Nachteile erleiden zu müssen und nicht abseits des „Weltgeschehens“ zu liegen, zumal mittlerweile in der Wetterau die Strecken Friedberg – Beienheim – Hungen und Beienheim – Nidda sowie die Ohmtalbahn Kirchhain – Niedergemünden ihrer Vollendung entgegensahen. Das Interesse der Stadt Gießen an einer direkten Bahnlinie nach Londorf verhinderte den Weiterbau der Lumdatalbahn, und erst am 25. Mai 1900 genehmigte das Ministerium den Anschluß an den Bahnhof Lollar, so dass am 1. Juni 1902 der langersehnte Streckenabschnitt Lollar – Londorf in Betrieb genommen werden konnte. Eine Einweihungsfeier scheint wohl nicht stattgefunden zu haben, da in der örtlichen Presse entsprechende Berichte fehlen. Im „Grünberger Anzeiger“ vom 28. Mai 1902 (Nr. 42) ist lediglich zu lesen:
„Vom Tage der Betriebseröffnung der Eisenbahn-Teilstrecke Lollar – Londorf werden zwischen Gießen und Grünberg über Lollar an Werktagen zwei Züge und an Sonn- und Feiertagen ein Zug in jeder Richtung zur unbeschränkten Postsachenbeförderung genutzt werden. Außerdem werden an Werktagen in zwei Zügen, an Sonn- und Feiertagen in einem Zug Briefbeutel befördert werden. Vom gleichen Zeitpunkt ab werden die z.Zt. zwischen Londorf – Lollar und Londorf – Gießen verkehrenden Landpostfahrten aufgehoben. Kaiserliches Postamt Londorf.“
Die Fertigstellung der Gesamtstrecke brachte dem Lumdatal und seinem Hinterland einen verstärkten wirtschaftlichen Aufstieg, vor allem in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Abgesehen von den Didier-Werken, die sich 1907 bei Mainzlar ansiedelten und noch heute einen Gleisanschluß besitzen, hat die Eisenbahn jedoch auf die Entstehung von neuen Industriebetrieben keine Wirkung ausgestrahlt. In Lumda (Buderus’sche Eisenwerke), Londorf und bei Lollar (Firma Dauster; Klopfmaschine) waren Verladestellen für Basalt eingerichtet, der mit Seilbahnen dorthin befördert wurde. Einen eigenen Bahnanschluß besaß das Basaltwerk Hertel bei Kesselbach. Ihre größte Auslastung im Güterzugverkehr erreichte die Bahn in den Jahren 1935 bis 1938, als sämtliche Materialien für den Autobahnbau zum Bahnhof Lumda transportiert wurden.
Der Bedeutung Gießens als Handels-, Wirtschafts- und Wissenschafts-zentrum wurde dadurch Rechnung getragen, dass seit 1902 bis zur Einstellung des Reisezugverkehrs 1963 bzw. 1981 durchgehende Züge von der Provinzialhauptstadt über Lollar nach Grünberg und zurück liefen. Dies war aber auch betrieblich bedingt, da größere Kohle- und Wasservorräte nur im Bahnbetriebswerk Gießen und in Grünberg bereitgehalten wurden. Zugkreuzungen fanden bis 1963 in den Bahnhöfen Londorf und Allendorf statt. Der Bahnhof Grünberg, dessen erstes Empfangsgebäude zwischen 1880 und 1890 errichtet wurde, erlangte seine Vollendung als Eisenbahnknotenpunkt im Jahre 1909, als die Strecke Lich – Grünberg der Butzbach-Licher Eisenbahn (BLE) enstanden war (Inbetriebnahme: Lich – Queckborn am 15. Juli 1909; Queckborn – Grünberg am 1. August 1909). Das alte Grünberger Bahnhofsgebäude enthielt folgende Einrichtungen: Büro des Dienstvorstehers und Fahrdienstleiters, Fahrkartenausgabe, Gepäck- und Expreßgutabfertigung, Übernachtungsräume mit 8-10 Betten für das Lok- und Zugbegleitpersonal, Warteräume 2. – 4. Klasse mit Bahnhofswirtschaft, Dienstwohnung des Bahnhofsvorstehers und des Bahnmeisters, Büro der Bahnmeisterei. Die Güterabfertigung und der Güterschuppen waren getrennt untergebracht (westlich des Empfangsgebäudes).
Seit 1896 befand sich an der Bahnhofswestseite ein Lokschuppen und ein Übernachtungsgebäude für Lok- und Zugführer, die beide 1925 abgebrochen wurden. Das Werkstättengebäude für Schreiner, Anstreicher, Leitungs-aufseher und Signalschlosser zwischen der Kopframpe und der Firma Draht-Schmidt sank 1945 bei einem Bombenangriff in Schutt und Asche und wurde nicht wieder aufgebaut. Die an der Ostseite des Bahnhofsgeländes befindlichen Betriebseinrichtungen Drehscheibe für Dampflokomotiven, Grube für Reparaturen und Untersuchungen, Kohlenlager mit Kran, Wasserkran) waren nach dem Abbau der Londorfer Strecke ihrer Funktion beraubt und wurden daher zwischen 1965 und 1967 abgebaut.
In seiner größten Ausdehnung bestand das Grünberger Bahnhofsgelände aus 4 Haupt- und 7 Nebengleisen mit zwei Stellwerken (Grünberg-West und Grünberg-Ost). Die langen Aufstellgleise Nr. 10 und 11 an der östlichen Seite verschwanden 1942, um beim Russland-Feldzug Verwendung zu finden. Die Bahnsteigunterführung war im Jahre 1910 in Betrieb genommen worden.
Das Kriegsgeschehen in den letzten Monaten ging auch an der Lumdatalbahn nicht spurlos vorüber. Die allierten Luftstreitkräfte bekamen mehr und mehr die Lufthoheit über dem Reichsgebiet und konnten fast ungehindert ihre Ziele angreifen.
Am 09. September 1944 kam es bei Odenhausen zum Angriff von 4 amerikanischen Jagdbombern auf den um 17.20 Uhr in Richtung Gießen abgefahrenen Personenzug. Die Lokomotive des Zuges wurde schwer beschädigt. Lokführer und Heizer wurden dabei getötet. Der Zug kam etwa 500 Meter westlich von Odenhausen zum Stehen und die Reisenden versuchten sich in alle Richtungen in Sicherheit zu bringen. Als der Angriff vorüber war, zählte man 16 Tote und 40 zum Teil erheblich verletzte Personen.
Durch zwei Bombenangriffe auf Grünberg am 13. März 1945 waren die gesamten Gleisanlagen zerstört worden. Das schwerbeschädigte Empfangsgebäude wurde um 1950 durch einen Neubau ersetzt. Ab Juni 1945 war ein Gleis wieder befahrbar, so dass der Zugbetrieb Gießen – Alsfeld wieder aufgenommen werden konnte.
Ebenfalls noch im Juni 1945 wurde die Lumdatalbahn auf ihre Befahrbarkeit hin geprüft. In der Kursbuchtabelle von September 1945 wird ein eingeschränkter Zugverkehr zwischen Lollar – Londorf und Lumda ausgewiesen, der wohl ab dem 19. Oktober 1945 aufgenommen wurde. Das Streckengleis zwischen Lumda und Grünberg war zu dieser Zeit noch durch abgestellte schadhafte Waggons blockiert. Am 18. Januar 1946 erfolgte dann die Wiederaufnahme des durchgehenden Betriebes auf der Gesamtstrecke. Für eine spätere Wiederinbetriebnahme in 1946 spricht, dass in den Verkehrsstatistiken der Reichsbahndirektion Frankfurt für die Monate Oktober bis Dezember 1945 keine Angaben über Verkehrsleistungen auf der Lumdatalbahn enthalten sind.
Nicht aber der Bombenhagel sollte Grünbergs Bedeutung als Bahnknotenpunkt zerstören, sondern die in den 50er Jahren einsetzende Motorisieriung im öffentlichen und privaten Bereich. So wurde schon am 3. Oktober 1953 der Gesamtverkehr zwischen Lich und Grünberg eingestellt und kurz danach mit den Rückbauarbeiten begonnen, die im Laufe des Jahres 1954 abgeschlossen waren.
Auf der Strecke nach Londorf begann man wegen zu geringen Frachtaufkommens Ende der 50er Jahre, die Gleisanlagen in den Bahnhöfen Lumda und Geilshausen bis auf das Streckengleis zurückzubauen, so dass ein Wagenladungsverkehr nicht mehr möglich war. Die Umwandlung dieser beiden Bahnhöfe in unbesetzte Haltepunkte erfolgte am 1. Januar 1960. Die Haltestelle Odenhausen, die wie Lumda und Geilshausen seit etwa September 1954 dem Bahnhof Grünberg unterstellt war, blieb weiterhin bestehen, da dort eine Bahnschranke zu bedienen war. Nach Durchführung dieser Rationalisierungsmaßnahmen vergingen nur noch wenige Jahre bis zur Einstellung des Personenzugverkehrs auf dem Abschnitt Grünberg – Londorf am 25. Mai 1963, der bis zu diesem Zeitpunkt noch an allen Tagen von frühmorgens bis spät in die Nacht aufrechterhalten wurde. Die damals beim Bahnbetriebswerk Gießen stationierte Tenderlokomotive 86 384 lief kurz nach 23 Uhr mit dem Personenzug 3731 (Gießen – Londorf – Grünberg) in den Endbahnhof ein. Nach 67 Jahren wurde die Personenbeförderung von der Schiene auf die Straße zurückverlagert.
Auf dem noch verbliebenen Reststück Londorf – Lollar – Gießen schränkte man gleichzeitig den Reisezugverkehr stark ein, indem an Sonn- und Feiertagen sowie an Samstagen ab 16 Uhr völlige Betriebsruhe herrschte. Bis etwa 1965 war das Streckengleis zwischen Grünberg und Londorf abgebrochen, die Bahnhofsgebäude in Kesselbach, Odenhausen, Geilshausen und Lumda gingen in Privatbesitz über. Der Lokschuppen und die ehemaligen Lokbehandlungsanlagen in Londorf werden bereits 1958 stillgelegt und etwa 1963 abgerissen und eingeebnet. Die Bahnmeisterei Grünberg, die die Strecke bis zur Eisenbahnbrücke zwischen Londorf und Allendorf unterhalten musste, vereinigte man am 1. Januar 1967 mit der Bahnmeisterei Butzbach zur „Bahnmeisterei 2 Gießen“.
Die ehemalige Bahntrasse ist heute noch gut zu verfolgen, die Stationsgebäude haben, von notwendigen Umbauten im Innerern und Äußeren abgesehen, größtenteils ihr ursprüngliches Aussehen bewahrt: die dreigeschossigen mit hellbraunen Klinkersteinen verkleideten Häuser haben ihre auffallenden Charakteristika in den waagrecht rundum verlaufenden Zierlinien, den geschwungenen Fensteraufsätzen im Erdgeschoß sowie dem Halbkreisornament im Giebel mit den schmiedeeisernen Initialen HS (Hessische Staatsbahn). Schon 1896 wurden sie im „Giessener Anzeiger“ als die „Villen der Rabenau“ bezeichnet. Die Lumdabrücke zwischen Londorf und Kesselbach ist noch unversehrt erhalten, im Laufe der Zeit aber von der Natur „zurückerobert“ worden.
Auf der noch weiterbetriebenen Teilstrecke Lollar – Londorf waren seit Sommer 1963 bis Mai 1980 durchschnittlich 5 Zugpaare montags bis freitags und 3 Zugpaare an Samstagen eingesetzt, deren Fahrplan vorwiegend nach den normalen Arbeits- und Schulzeiten gestaltet wurde. In den beiden letzten Fahrplanperioden (Sommer 1980 und Winter 1980/81) gab es sogar zwei zusätzliche Zugfahrten in jede Richtung, die aber zeitlich so ungünstig lagen, dass sie nur wenig frequentiert wurden.
Ein Rückgang in der Personenbeförderung auf der Schiene zwischen Londorf und Gießen war schon seit Mitte der 60er Jahre spürbar, so dass am 1. August 1968 die Bahnhöfe Allendorf und Treis zu unbesetzten Haltestellen erklärt wurden. Am 30. Juni 1970 folgte der Haltepunkt Daubringen, am 1. Oktober 1976 der Bahnhof Mainzlar und schließlich am 1. Juli 1977 der Bahnhof Londorf, der vom 1. August 1896 bis September 1954 als selbständige Dienststelle geführt worden war.
Schon 1976 wollte die Bundesbahn die Reststrecke stilllegen, sah aber seinerzeit nach massiven Bürgerprotesten davon ab. Durch den verstärkten Einsatz von parallel laufenden Bahnbussen, deren Vorteil zweifellos in der Verkehrserschließung weiterer abgelegener Orte (Allertshausen, Climbach, Atzenhain, Bernsfeld, Nordeck, Rüddingshausen, Stangenrod, Staufenberg, Weitershain) liegt, wurden jedoch nach und nach die Fahrgastzahlen in den Zügen verringert, so dass man zunächst im Rahmen der fahrzeugmäßigen Betriebsführung seit dem 27. Mai 1978 lokbespannte Personenzüge durch Triebwagen ersetzte. Als Anfang 1981 Pläne der Bundesbahndirektion Frankfurt bekannt wurden, die Bahnverbindung von Gießen nach Londorf aufgrund eines jährlichen Defizits von 450.000 Mark aufzugeben, kam es in Treis zur Bildung einer parteiunabhängigen „Arbeitsgruppe Streckenstillegung“, die ihre Aufgaben darin sah, den Zugverkehr unter allen Umständen beizubehalten und durch eine günstigere Fahrplangestaltung attraktiver zu machen, zumal die Frühzüge nach Gießen 90 bis 100 Prozent besetzt waren (130-180 Fahrgäste).
Als weitere Vorteile der Bahn wurden eine wesentlich kürzere Fahrzeit, höhere Bequemlichkeit (genügend Sitzplätze, ausreichende Unterstellmöglichkeiten in den Bahnhöfen) und Pünktlichkeit im Winter hervorgehoben. Obwohl Treiser Bürger innerhalb kurzer Zeit 1.400 Protest-Unterschriften gesammelt hatten, konnte eine totale Umstellung auf Busverkehr nicht mehr verhindert werden. Am 30. Mai 1981 bestand letztmalig Gelegenheit, das Lumdatal zwischen Lollar und Londorf auf dem Schienenweg zu bereisen.
Der Güterzugverkehr zwischen den einzelnen Stationen wurde vorerst weiterhin aufrecht erhalten, vor allem auf dem Abschnitt Lollar – Mainzlar. Mit diesem Datum war jedoch die Diskussion um die Stilllegung nicht beendet. Die jetzt auf Busse angewiesenen früheren Bahnbenutzer beklagten die zeitlich längere und unbequeme Personenbeförderung auf der Straße. War man früher auf dem Schienenweg 30 Minuten lang von Londorf nach Gießen unterwegs, so dauert eine Busfahrt auf der gleichen Strecke 45 bis 50 Minuten, obwohl einige Busse den Umweg über Staufenberg – Lollar vermeiden und von Mainzlar über Daubringen direkt nach Gießen fahren. Diese Unzufriedenheit der Bürger mit den seinerzeit bestehenden Verkehrsverhältnissen im Lumdatal veranlassten Mitte Dezember 1981 den SPD-Ortsverein Rabenau zur Verabschiedung einer Resolution, in der aus Gründen der Umweltentlastung (Lärm, Abgase), Verkehrsgefährdung, Pünktlichkeit und Bequemlichkeit die Wiederaufnahme des schienengebundenen Personenverkehrs gefordert wurde.
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bot der Einsatz von Triebfahrzeugen auf der Lumdatalbahn ein vielfältiges Bild. Dampflokomotiven der Bahnbetriebswerke Gießen und Limburg waren hier bis 1970 eingesetzt. Es waren dies Schlepptenderlokomotiven der Baureihen 38 (bis 1963), 50 (bis 1970), 55 und 56 (bis 1969) sowie Tenderlokomotiven der Baureihen 65 (1968/69), 66 (etwa 1965-1967), 74, 86 (bis etwa 1965) und 91. Vor Reisezügen konnte man die Diesellokomotiven vom Typ 211, 212 und auch hin und wieder 213 beobachten (später nur noch vor Güterzügen), im Übergabedienst auch Rangierloks der Reihe 260. Rechts abwechslungsreich gestaltete sich der Einsatz von Triebwagen, die erstmals in den 50er Jahren im Lumdatal zu sehen waren. Neben Altbau-Triebwagen der BR VT 60.5 waren es vor allem die nach 1950 gebauten ein- und zweimotorigen Verbrennungstriebwagen (Schienenbusse der Reihe 795/798), die in den letzten beiden Fahrplanperioden (Sommer 1980 und Winter 1980/81) die Personenbeförderung alleine bewältigten, sowie die in Limburg beheimateten Akkumulatoren-Triebwagen der Reihen 515 und 517 („Limburger Zigarre“), die noch bis zum Sommer 1980 die Strecke befuhren. Noch 1981 konnte man frühmorgens gegen 6 Uhr einen sechsteiligen (!) Schienenbus sehen, der im Endbahnhof getrennt wurde und in zwei Einheiten nach Gießen zurückfuhr.